Thomaspeter Goergen über die FoodGospel-Texte von Max Andrzejewski’s HÜTTE and The Homegrown Organic Gospel Choir
Jan 24, 2017

Thomaspeter Goergen (Poet, Theaterdramaturg und Autor der Songtexte) über das inhaltliche Konzept des Albums »HÜTTE and The Homegrown Organic Gospel Choir«, welches im April 2017 bei WhyPlayJazz erscheint:

Der Mensch ist wohl das einzige Wesen, dem klar vor Augen steht, einmal nicht existiert zu haben und einmal nicht mehr existieren zu werden. Aus diesen Polen des Noch-Nicht und des Nicht-Mehr speist sich unsere Kultur. Eine Kultur, die mithin gebietet zu essen und zu trinken und zu gedenken, um das was flüchtig ist: wir selbst, fortleben zu lassen im Erinnern. Erinnerung ist Appetit, sagt Hemingway, und wer wenn nicht Jesus Christus würde dem beistimmen: Hoc est enim corpus meus.

Von der famosen Madelaine, bei der es Marcel Proust im bald apokalyptischen Sinne süß ward im Munde, bis zur Urverknüpfung von Obst, Erkenntnis, Sündenfall; von den aztekischen Göttern, die sich im Ritual als Pfefferkuchen darboten über die Olympier, die aus Futterneid die Brutal-Diät des Tantalus kreierten; der Ewigkeitshieroglyphe auf dem Leibnizkeks, der „Götterspeise“, die mal Nektar und Ambrosia war, mal der Plettenkuchen der Buddenbrocks und dann wieder radioaktivgrünes Gelee – Glaube geht durch den Magen.

Die Metapher des Essens, des lebenserhaltenden und unmittelbaren Genusses, durchzieht viele Religionen – so wie das göttlichste Dinner nach Verzehr nur noch in der Kathedrale der Erinnerung unseres Gaumens fortbesteht, ist das Rezept des Glaubens auch die Versinnlichung des Jenseits, die Erlösung der Welt aus der Vergänglichkeit. Freilich kann man da wie dort Lenins berühmtes Omelett nicht ohne die Opferung einiger Eier haben. Denn der Freude, der Hoffnung, der Erlösung, welche Religion wie Kulinarik innewohnen, stehen – gnostisch, manichäistisch – die Leiden gegenüber, die immanenten: Verzweiflung, Reue, Schmerz, Übelkeit, die Last des Körpers, der Fluch des Übermaßes, der Selbstekel und die Kasteiung. Ist es da ein Wunder, dass Religionen über das Essen nicht nur reden, um Gott als „Brot der Seele“ zu preisen, sondern vor allem in Geboten und Verboten, bis zum Siedepunkt der Paranoia – weil gerade monotheistische Religionen dem schieren Genuß an und für sich misstrauen? Dem selbstverliebten Spiel, der Befriedigung des Menschen an sich selbst, Sinnlichkeit und Erotik, die zutiefst atheistisch ist: weil der Mensch, der zutiefst genießt, in jenem Moment keinen Gott mehr neben sich kennt. Ein höheres Vergnügen als Gott kann jener aber, der einzige Gott, der einsame Gott, nicht dulden, und so versalzt und versauert er dem Menschen den Genuß, bewehrt er das Essen mit Strafen. Schuld liegt auf dem Teller, wie Gift, Kontaminationen, wenn eine Speise – egal ob man es auch nur schmecken könnte – unsinnlichen Geboten zuwiderläuft. Und was ist das Zählen von Kalorien, das Studium der Nährwertangaben, die Angst vor dem Cholesterin anderes als eben das – die Schuld, die Essgenuß auf sich lädt? Was ist die Essstörung, wenn nicht ein ebenso schweres Leid, wie der Mensch, der sich für unrein hält gegenüber Gott? Freilich – wir werden schuldig, wo wir essen, und heucheln genauso wie die Wucherer, die Jesus weiland aus dem Lokal verjagte. Wir töten. Wir quälen. Uns und unser Essen. Wir nehmen Schaden schon allein, weil wir das leben, das wir verzehren, nicht so respektieren, wie es die Götter der Azteken von ihren Jüngern verlangen, als sie zu Kuchen wurden. Wir opfern, um nicht geopfert zu werden; wir sind Blutmessiasse der Gastronomie – mit Massentierhaltung, Käfigelend, Hungersnöten, Wasserkriegen, Stopflebern, Walschlachtung, leergefischter Meere. Und wir sind Flagelanten, Büßer höchst diesseitiger Glaubenssätze: zu dick, zu dünn, zu ungesund ... Unser Essgenuss liegt in den Händen, einer Milliardenindustrie, die mit Glutamat missioniert und Ablaßhandel mit Nutrasweet betreibt. „Ich habe gestern wieder gesündigt“, sagt jemand, der nicht gegen die zehn Gebote verstieß, sondern wer um Mitternacht noch Dreikäsepizza und Half Baked Ben&Jerrys verzehrte. Esst und trinkt zu meinem Gedenken, sagt Christus; gedenket, dass ihr sterben müsst; sagt der Lateiner; und dann ist auch noch Musik die Nahrung der Seele. Sagt Shakespeare. Musik? Nicht Gott? Ist die Musik nicht, gleich dem Essen und dem Trinken, flüchtig, ungreifbar, verklingend, wenn nicht im Gedächtnis aufbewahrt; ja ist Musik nicht in besonderem Maße: Erinnerungskultur, Gedächtnisinstrument? Ist die in Musik nicht ein Verfahren, auch ohne Schrift Erzählungen fortbestehen zu lassen, ihnen eine besonders gut zu memorierende Form zu geben – von den Gesängen eines Homers, den Troubadouren – bis zu den Liedern der Sklaven auf den Feldern Amerikas: auf denen selbsternannte Herrenmenschen sich lossagten von der Menschlichkeit und den Rassismus erfanden zur Rechtfertigung der Ausbeutung anderer. Dort die Archive, die Bücher, die so weiß sind wie die Peitschen, Ketten, die Baumwolle der Felder – wo der Schmerz, die Traurigkeit, und auch die Hoffnung und das Lied, schwarz sind. Der Gospel ist die Musik des Evangeliums, der frohen Botschaft. Das Lied, das von Christus handelt, ist ein good spell, sagt Edwin Hawkins, von Jesus Christus, der – anders als die frommen Bildern des europäischen Mittelalters - sicher eins nicht war: weiß und blondgelockt wie im Adventsliedchen. Entstanden aus den Spirituals der Versklavten des 17., 18. Jahrhunderts, eine erste Blüte mit All Time Favorites wie „Oh happy day“ aus den verlogensten Zeit der Rassentrennung Mitte des 20. Jahrhunderts – aus der Mitte des Schmerzes in die Höhe der Hoffnung gesungen, dass nicht vergessen wird, nein, dass sich erinnert wird, denn die Hoffnung ist uns um der Hoffnungslosen gegeben (W. Benjamin).

Dies gab die Idee zu einem Gospel über Essen. Vielleicht mit einem Augenzwinkern voller ironischer Liebe, aber auch weil sich etwas verbindet: Freude, Genuss, Schmerz und Erinnern, etwas, was allen Menschen unbefangen gehören sollte und nicht unbefangen geschenkt wird. Essen und Trinken zum Gedenken, und Singen zum Gedenken. Dass wir essen müssen, dass wir singen wollen, und dass wir vielleicht nicht nichtglauben können. Dass Adipositas und Bulemie zwei Seiten ein und derselben Hölle sind, ohne die der Himmel heute nicht zu denken ist. Den wir aber denken wollen, genau wie wir an unser Lieblingsgericht denken wollen. Ist dies der Sprung in den Glauben, von dem der dänische Philosoph und Christ Sören Kierkegaard seinerzeit geschrieben hat? Der aber auch schrieb, etwas verkürzt gesagt, Braten mit Zucker ist Verrat am Christentum! Oder so ähnlich ... Glory, glory!